Als erste Frau an der Spitze des OLG Hamm spricht Gudrun Schäpers über Gerechtigkeit, moderne Führung und warum Vertrauen, Offenheit und Menschlichkeit die Justiz stark machen.
Du bist die erste Frau an der Spitze einer der größten Oberlandesgerichte Deutschlands. Was hat Dich dazu motiviert, diesen Weg einzuschlagen?
Wenn ich heute auf meinen Werdegang zurückblicke, dann kann ich sagen: Geplant war dieser Weg nicht. Ich habe mich damals nicht für die Justiz entschieden, um Präsidentin des Oberlandesgerichts zu werden. Vielmehr haben sich die Dinge Schritt für Schritt so ergeben.
Schon als Kind konnte ich es nie gut ertragen, wenn Menschen unfair behandelt wurden. Auch wenn ich weder familiäre noch sonstige Berührungspunkte zur juristischen Welt hatte, wuchs in mir der Wunsch, mich beruflich dafür einzusetzen, dass anderen Gerechtigkeit widerfährt. Für manche mag das vielleicht idealistisch klingen, doch genau dieses Bedürfnis, etwas Sinnvolles zu tun und für Gerechtigkeit einzustehen, war letztlich der ausschlaggebende Grund für meine Entscheidung, Jura zu studieren.
Im Referendariat habe ich dann besonders die Zeit am Gericht als prägend empfunden. Die unmittelbaren Einblicke in die Praxis haben meinen Wunsch bestärkt, Richterin zu werden – mit dem Ziel, Menschen in schwierigen Situationen Orientierung zu geben, ihnen zuzuhören und durch faire Verhandlungen und gut begründete Entscheidungen konkrete Hilfe zu leisten.
Ich erinnere mich noch sehr genau an den Tag im Jahr 1996, als ich im Sitzungssaal des Landgerichts Bochum zur Richterin vereidigt wurde. Es war ein ganz besonderer, bedeutungsvoller Moment für mich – ein echter Meilenstein.
Inzwischen sind fast 30 Jahre vergangen – und ich kann immer noch mit voller Überzeugung sagen, dass ich es keinen einzigen Tag bereut habe, Richterin geworden zu sein. Diese Aufgabe hat mir von Anfang an große Freude bereitet, und ich hatte das Glück, in allen Stationen mit engagierten und inspirierenden Kolleginnen und Kollegen zusammenarbeiten zu dürfen.
Im Laufe der Jahre durfte ich zudem vielfältige Aufgaben in der Justizverwaltung übernehmen – unter anderem im nordrhein-westfälischen Ministerium der Justiz. Besonders spannend fand ich dabei das Zusammenspiel von Justiz, Gesetzgebung und Politik. Der Blick über den Tellerrand hat mir gezeigt, wie viel jeder Einzelne bewirken kann, wenn man selbst Veränderungsprozesse mitgestaltet und dazu beiträgt, Rahmenbedingungen zu verbessern und gute Voraussetzungen für die tägliche Arbeit in der Justiz zu schaffen.
Aus dieser Erfahrung heraus ist der Wunsch gewachsen, nicht nur als Richterin meiner besonderen Aufgabe in der Rechtsprechung in hohem Maße gerecht zu werden, sondern auch Verantwortung für die Justiz als Institution zu übernehmen. Es war und ist mir ein großes Anliegen, strukturelle und organisatorische Rahmenbedingungen mitzugestalten, unter denen alle unsere Kolleginnen und Kollegen in der Justiz tagtäglich arbeiten und den Menschen in unserem Bezirk helfen. Denn Justiz kann nur dann funktionieren, wenn nicht nur die rechtlichen Entscheidungen stimmen, sondern auch das Umfeld stimmt, in dem sie getroffen werden. Ein starker, handlungsfähiger Rechtsstaat braucht verlässliche Strukturen, transparente Abläufe und ein Arbeitsklima, das Engagement und Verantwortungsbewusstsein fördert.
Die Leitung des Oberlandesgerichts vereint für mich all diese Aspekte – juristische Expertise, organisatorisches Geschick und menschliche Führungsverantwortung – in einer Weise, die ich als sinnstiftend und herausfordernd zugleich empfinde.
Diese Aufgabe ist für mich eine große Ehre, die mich zutiefst dankbar und demütig macht. Für mich persönlich ist es ein großes Privileg, in einem Beruf arbeiten zu dürfen, in dem ich etwas bewegen kann und so viele tolle Kolleginnen und Kollegen an meiner Seite habe. Hätte man mir vor 30 Jahren gesagt, dass ich einmal dieses Amt bekleiden würde, ich hätte es nicht geglaubt.
Du bist Präsidentin des OLG Hamm mit 12.000 Mitarbeitenden. Wie definierst Du moderne Führung in der Justiz – und welche Werte sind Dir in der Zusammenarbeit mit Teams unverzichtbar?
Das Miteinander ist für mich das Allerwichtigste: Wir sind soziale Wesen und wir agieren in der Justiz durch Menschen für Menschen. Uns verbindet der gemeinsame Auftrag, den Rechtsstaat zu sichern und das Vertrauen der Menschen in eine unabhängige, faire und handlungsfähige Justiz zu bewahren und zu stärken. Gemeinsam für ein gerechtes Miteinander einzustehen, bedeutet für mich daher auch, die Werte des Rechtsstaats nicht nur nach außen zu vertreten, sondern auch innerhalb der Justiz zu leben.
Dazu gehört für mich insbesondere, sich Zeit für die Menschen zu nehmen – für ihre Anliegen, Fragen oder auch Sorgen – und jederzeit ein offenes Ohr und eine offene Tür zu haben. Führung bedeutet für mich nämlich auch, ansprechbar zu sein, hinzuhören und präsent zu sein.
Natürlich kann ich als Präsidentin eines Oberlandesgerichts mit 12.000 Mitarbeitenden in unserem OLG-Bezirk nicht mit jeder einzelnen Person im direkten Austausch stehen, aber es ist mir wichtig, dennoch spürbar ansprechbar zu sein – sei es über regelmäßige Gespräche mit Führungskräften oder durch Begegnungen vor Ort. Gerade deshalb war es mir ein besonderes Anliegen, nach meiner Amtseinführung jedes einzelne unserer 77 Amtsgerichte und unserer 10 Landgerichte im Bezirk zu besuchen, mit den Mitarbeitenden vor Ort ins Gespräch zu kommen, zuzuhören und einen Eindruck davon zu gewinnen, was sie bewegt. Diese persönlichen Begegnungen waren eine echte Bereicherung und sind für mich unverzichtbar – sie schaffen Vertrauen, vermitteln gegenseitige Wertschätzung und geben mir zugleich aber auch wichtige Impulse für meine tägliche Arbeit.
Dabei ist mir wichtig, nicht nur Positives zu hören, sondern auch Raum für das zu schaffen, was vielleicht nicht gut läuft. Ich möchte bewusst ein Klima fördern, in dem auch Kritik und schwierige Themen offen angesprochen werden können – gerade dann, wenn sie unbequem sind. Denn nur in einer Atmosphäre gegenseitiger Offenheit und Ehrlichkeit kann echtes Vertrauen entstehen. Für mich ist Ehrlichkeit daher ein zentraler Wert in der Zusammenarbeit – sie bildet die Grundlage dafür, gemeinsam Lösungen zu finden, Herausforderungen anzunehmen und daran zu wachsen.
Gleichzeitig bedeutet eine solche Feedbackkultur für mich aber auch, positive Rückmeldungen zu geben und die Leistungen und Erfolge der Mitarbeitenden anzuerkennen und zu würdigen. Durch positives Feedback können wir das Selbstvertrauen unseres Teams stärken und dadurch eine starke Justiz schaffen.
Als ehemalige Präsidentin des Landesjustizprüfungsamts: Was muss sich Deiner Meinung nach in der juristischen Ausbildung ändern, um junge Menschen für die Justiz zu begeistern – besonders Frauen?
Um auch in Zukunft junge, talentierte und engagierte Menschen für die Justiz zu gewinnen, ist es besonders wichtig, dass Schülerinnen und Schüler, Studierende sowie Referendarinnen und Referendare frühzeitig die Gelegenheit haben, Praxiserfahrungen zu sammeln und mit unseren Kolleginnen und Kollegen aus den verschiedenen Bereichen der Justiz in Kontakt zu treten. Dadurch erhalten sie schon früh wertvolle Einblicke in die vielfältigen beruflichen Möglichkeiten und erleben aus erster Hand die spannende Arbeit in der Justiz. Denn wir bieten nicht nur eine Karriere als Richterin oder Richter, sondern eine Vielzahl weiterer toller und bedeutender Berufe und Möglichkeiten, sich zu verwirklichen an.
Durch frühzeitigen Austausch in der Praxis können wir unserem Nachwuchs schon ganz zu Beginn zeigen, wie sinnstiftend, vielfältig und verantwortungsvoll die Arbeit in der Justiz ist.
Viele sehen das Richter- oder Staatsanwaltsamt zunächst als etwas Fernes, vielleicht sogar Unnahbares. Dabei bietet gerade die Justiz die Möglichkeit, mit Fachlichkeit, Empathie und Menschlichkeit etwas zu bewirken. Es liegt mir daher besonders am Herzen, mit den Vorurteilen aufzuräumen, dass die Justiz verstaubt oder rückschrittlich sei – das sind wir ganz sicher nicht! Wir müssen erlebbar machen, wie modern, offen und beweglich unsere Justiz tatsächlich ist. Das gelingt am besten, wenn schon in der Schule, im Studium und im Referendariat echte Einblicke in den Gerichtsalltag ermöglicht werden. Es ist uns am Oberlandesgericht Hamm daher auch sehr wichtig, den Rechtskundeunterricht an den Schulen noch weiter zu fördern und das Referendariat attraktiver zu gestalten.
Mit einem Podcast hat unser ehemaliger hauptamtlicher AG-Leiter des Oberlandesgerichts mit tollen Kolleginnen und Kollegen ein großartiges Projekt auf die Beine gestellt. Beim „RefPod“ werden nicht nur klassische Klausurtipps, sondern auch Themen rund um das Referendariat und Studium behandelt, z.B. der Umgang mit Examensdruck.
In diesem Jahr wird auch erstmals ein „Pub-Quiz“ für die Referendarinnen und Referendare unseres Bezirks im Oberlandesgericht Hamm stattfinden. Die Idee hierzu entsprang aus dem Wunsch, den Nachwuchs auf ungezwungene Weise abseits des Ausbildungsrahmens unter sich eigene Erfahrungen austauschen zu lassen und mit den Kolleginnen und Kollegen der Justiz in Kontakt zu kommen, auch um Interessierten authentische Einblicke in die Arbeit als Richterin und Richter beziehungsweise Staatsanwältin und Staatsanwalt zu ermöglichen.
Daneben gibt es seit einigen Jahren für Referendarinnen und Referendare auch die Möglichkeit, als wissenschaftliche Mitarbeiterin oder Mitarbeiter an den Gerichten zu arbeiten. Das ist ein guter Weg, um sie für den Richterberuf zu begeistern und qualifizierten Nachwuchs zu gewinnen.
Ein besonderes Highlight in diesem Jahr war für mich der Girls’- and Boys’ Day beim Oberlandesgericht Hamm, den wir inzwischen zum zweiten Mal veranstaltet haben – und der erneut auf große Begeisterung gestoßen ist. Es hat mich beeindruckt, wie neugierig und aufgeschlossen die Schülerinnen und Schüler auf alle Berufsgruppen innerhalb der Justiz zugegangen sind – vom Wachtmeisterdienst bis zum Richteramt. Ihr offenes Nachfragen, ihre Begeisterung und ihr ehrliches Staunen haben deutlich gemacht, wie wertvoll solche Einblicke sind.
Ein weiterer wesentlicher Aspekt – insbesondere für Frauen – ist zudem die Sichtbarkeit von Vorbildern. Sie zeigen uns, dass Führungsverantwortung, Beruf und Familie in der Justiz vereinbar sind – und dass Karrierewege ganz unterschiedlich verlaufen können und dürfen. Solchen Vorbildern können junge Menschen im Laufe der juristischen Ausbildung auf viele verschiedene Weise begegnen – sei es als persönliche Ausbilderin oder Ausbilder in der Zivilstation, als AG-Leiterin oder AG-Leiter oder auch als Prüferin oder Prüfer im Examen. Momentan gibt es noch viele Prüfungskommissionen, in denen der Männeranteil dominiert. Das ist sehr schade. Deshalb möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich dazu ermutigen, dass sich noch mehr qualifizierte Frauen als Prüferinnen im ersten oder zweiten Staatsexamen engagieren. Ihre Perspektiven, Erfahrungen und ihr Beispiel sind ein wertvoller Beitrag zu mehr Vielfalt, Repräsentanz und Chancengleichheit in der Justiz.
Nur 35 % der Richterstellen in Deutschland sind mit Frauen besetzt. Welche strukturellen Hürden siehst Du – und wie können Netzwerke wie die Paragraphinnen hier gegensteuern?
Die bundesweite Zahl zeigt, dass es noch immer Themen gibt, die Frauen auf ihrem Weg in die Justiz begrenzen. Diese sind nicht immer offensichtlich – sie zeigen sich etwa in fehlender Sichtbarkeit weiblicher Vorbilder, in traditionellen Rollenerwartungen oder in der nach wie vor herausfordernden Vereinbarkeit von Familie und beruflicher Verantwortung.
Umso erfreulicher ist es, dass die Situation in unserem Bezirk deutlich besser aussieht: Während der Frauenanteil 2010 noch bei knapp 36 % lag, hat er sich bis 2024 auf beeindruckende 56 % erhöht. Auch in den höheren Beförderungsämtern setzt sich dieser Trend fort. Das bedeutet natürlich nicht, dass unsere Arbeit getan ist und Hürden nicht mehr bestehen. Aber es zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind und dass es durchaus möglich ist, Veränderungen herbeizuführen, wenn wir aktiv daran arbeiten und uns ständig hinterfragen.
In unserem Bezirk sehen wir, dass vor allem eine transparente und offene Kommunikation sowie die gezielte Förderung von Frauen in Führungspositionen dazu beitragen, den Anteil weiter zu steigern. Viele Frauen und Männer nehmen auch die Möglichkeit in Anspruch, Teilzeitmodelle zu nutzen, um Familie und Beruf zu vereinbaren – und dies auch in Führungspositionen, beispielsweise als Vorsitzende / Vorsitzender in einem Senat oder Direktorin / Direktor eines Amtsgerichts.
Ich glaube jedoch, dass eine der größten Hürden weiterhin die tief verankerten klassischen Rollenbilder sind. Sie beeinflussen nicht nur die Entscheidungen junger Frauen, sondern auch die Erwartungen, die von außen an sie herangetragen werden. Wer sich als Frau für eine juristische Karriere mit Führungsverantwortung interessiert, wird auch heute noch eher mit Zweifeln konfrontiert als ein männlicher Kollege. Die Praxis zeigt, dass Männer leider seltener von Teilzeitmodellen Gebrauch machen. Gleichzeitig verspüren Frauen häufiger das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen – sei es für ihre Entscheidung, in Vollzeit zu arbeiten, oder eben dafür, beruflich kürzerzutreten.
Umso wichtiger ist es, dass wir eine Justizkultur fördern, in der individuelle Lebensmodelle nicht bewertet, sondern unterstützt werden – unabhängig vom Geschlecht. Nur so können wir echte Gleichstellung erreichen und langfristig auch Führungspositionen vielfältiger besetzen.
Gerade in diesem Spannungsfeld kommen Netzwerken wie die Paragraphinnen eine zentrale Rolle zu. Sie bieten weit mehr als nur fachlichen Austausch, sondern schaffen geschützte Räume für offene und ehrliche Gespräche, gegenseitige Ermutigung und das bewusste Sichtbarmachen weiblicher Perspektiven. Dort können genau die Fragen gestellt werden, die im beruflichen Alltag oft unausgesprochen bleiben: Wie gehe ich mit Erwartungsdruck um? Wie finde ich meinen eigenen Führungsstil? Und wie verbinde ich Karriere mit meinen persönlichen Lebenszielen?
Wenn erfahrene Kolleginnen offen über ihren Weg sprechen – über Herausforderungen, Umwege, Zweifel und Erfolge – wirkt das oft stärker als jeder Karriereratgeber. Es entsteht ein Gefühl von Verbundenheit, von „Ich bin nicht allein“, und das stärkt enorm.
Wie schützt Du Dich selbst vor Überlastung – und was rätst Du Juristinnen, die Beruf und Familie vereinen möchten?
Als Präsidentin des größten deutschen Oberlandesgerichts ist mein Alltag häufig sehr anspruchsvoll und von vielen Terminen bestimmt. Um mich vor Überlastung zu schützen, versuche ich ganz bewusst, mir kleine Auszeiten zu gönnen – selbst wenn es manchmal nur ein paar Minuten sind, in denen ich kurz durchatmen kann. Eine Tasse Cappuccino mit Kolleginnen und Kollegen oder ein kurzer Spaziergang in der Natur helfen mir, den Kopf frei zu bekommen. Auch feste Zeiten für meine Familie und meine Hobbys sind mir wichtig – sie geben mir Energie und schaffen einen notwendigen Ausgleich zum beruflichen Alltag.
Im Berufsalltag ist es für mich zudem entscheidend, Aufgaben nicht alleine zu tragen, sondern im Team gemeinsam an Lösungen zu arbeiten. Ich lege großen Wert darauf, Verantwortung zu teilen, und ich habe das Glück, viele tolle Kolleginnen und Kollegen an meiner Seite zu haben, die jeden Tag mit ihrem Engagement und ihrer Expertise dazu beitragen, dass wir als Team erfolgreich sind. Dabei ist es mir auch besonders wichtig, Hilfe anzunehmen zu können. Niemand muss alles alleine schaffen, man kann sich bei Bedarf Unterstützung holen. Für mich ist es vielmehr eine Stärke, verschiedene Perspektiven und Ideen zusammenzubringen, die uns oft auf neue, bessere Lösungswege führen. Wir arbeiten alle an derselben Aufgabe und jeder Blickwinkel, jede Erfahrung ist wertvoll. Diese gegenseitige Unterstützung und das Vertrauen füreinander ermöglichen es uns, die Herausforderungen des Berufsalltags zu meistern und gleichzeitig ein Umfeld zu schaffen, in dem jede und jeder sich einbringen kann und in dem Zusammenarbeit großgeschrieben wird.
Welchen Satz möchtest Du allen Juristinnen mitgeben, die heute am Anfang ihrer Karriere stehen?
Ich weiß, es sollte ein Satz sein – aber Juristinnen und Juristen neigen bekanntlich nicht gerade zur Kürze und ich bin da wohl keine Ausnahme:
„Vertraue auf dich, gehe deinen eigenen Weg, scheue dich aber auch nicht, Hilfe zu suchen und dich früh zu vernetzen – lasse dich nicht davon abbringen, wie du deinen Beruf mit deinen Werten, deinen Lebensvorstellungen und deiner Persönlichkeit in Einklang bringen möchtest. Es gibt nicht den einen richtigen Weg – aber es gibt viele gute.“
Und, wenn ich noch eins hinzufügen darf:
„Schaue auch mal zurück. Du hast ein anspruchsvolles Studium gemeistert, ein oder sogar zwei Staatsexamina bestanden – das ist eine enorme Leistung. Darauf darfst und solltest du stolz sein. Mit diesem Weg hast du nicht nur Wissen erworben. Du hast auch deine eigene Stärke bewiesen und persönliches Durchhaltevermögen gezeigt. Vertraue darauf!“
Du setzt Dich für die Digitalisierung der Justiz ein, etwa durch elektronische Akten und KI-Schulungen. Wie gelingt die Balance zwischen technologischem Fortschritt und dem menschlichen Kern der Rechtsprechung?
Das ist eine spannende Frage.
Viele, die mich kennen, wissen: Ich sehe uns in der Justiz als Dienstleisterinnen und Dienstleister, die nicht nur das Gesetz anwenden. Sowohl die Richterin und der Richter als auch die vielen engagierten Kolleginnen und Kollegen in den anderen Dienstzweigen – wir alle sind dafür da, den Menschen in den verschiedensten Lebenslagen zur Seite zu stehen und ihnen zu helfen.
Für mich steht daher im Vordergrund, dass es in der Justiz um Menschen geht. Unsere Entscheidungen betreffen echte Menschen mit ihren persönlichen Schicksalen und genau das ist es, was unsere Arbeit so sinnstiftend und verantwortungsvoll macht. Diese Menschlichkeit, dieses Verständnis für individuelle Geschichten und die Ernsthaftigkeit, mit der wir diese Schicksale behandeln, können nicht durch digitale Prozesse ersetzt werden.
Gleichzeitig bietet uns die Digitalisierung jedoch die Möglichkeit, unsere Arbeit noch besser und effizienter zu gestalten und uns auf das Wesentliche zu konzentrieren. Die elektronische Akte oder auch Legal Tech-Projekte helfen uns, bürokratische Prozesse zu vereinfachen, Informationen schneller zu finden und bereitzustellen und dadurch zugleich auch die Erreichbarkeit der Gerichte zu verbessern. Für mich ist entscheidend, dass wir durch die Digitalisierung auch Berührungsängste abbauen und die Justiz für alle Bürgerinnen und Bürger zugänglicher machen können.
KI bietet für die zukünftige Arbeit der Justiz echte Potentiale. Wir dürfen dabei jedoch nie vergessen, dass die Technologie immer nur als Unterstützung dient und nie als Ersatz. Sie kann niemals die Empathie und das Urteilsvermögen unserer Kolleginnen und Kollegen ersetzen. Darüber hinaus stellt uns der Einsatz von KI auch immer vor Fragen ethischer und rechtlicher Natur, mit denen wir uns in den kommenden Jahren intensiv beschäftigen müssen. Wichtig ist, dass der unterstützende Einsatz künstlicher Intelligenz transparent erfolgt und stets kritisch hinterfragt wird. Gerade in unseren Berufen tragen wir große Verantwortung dafür, uns der Risiken bewusst zu machen, die mit dem unkritischen Einsatz von KI verbunden sein können.
In Podcasts gibst Du Einblicke in Deine Zeit als Prüferin. Was ist Dein wichtigster Rat für junge Juristinnen in der mündlichen Prüfung?
Mein wichtigster Rat für die mündliche Prüfung gilt eigentlich gleichermaßen für junge Juristinnen wie für Juristen – auch wenn ich aus eigener Erfahrung weiß, dass gerade viele junge Frauen dazu neigen, besonders hohe Ansprüche an sich selbst zu stellen.
Wichtig ist, sich immer wieder bewusst zu machen: Die mündliche Prüfung ist ein Gespräch – kein Verhör und keine rein technische Abfrage. In der mündlichen Prüfung geht es nicht nur darum, Fakten oder Gesetze auswendig zu kennen, sondern vor allem darum, sich mit den Prüferinnen und Prüfern auszutauschen und eine fundierte, reflektierte Haltung zu den juristischen Fragestellungen einzunehmen.
Es ist wichtig, in diesem Gespräch ruhig zu bleiben und nicht zu sehr in der Angst vor Fehlern zu verharren. Niemand erwartet, dass man jedes Detail parat hat – viel wichtiger ist es, wie man mit den Fragen umgeht, wie man argumentiert und die eigene Herangehensweise erklärt. Juristische Prüfungen sind immer auch eine Gelegenheit, zu zeigen, wie man als Juristin oder Jurist denkt, wie man Probleme analysiert und Lösungen findet. Es ist weniger die „richtige“ Antwort auf jede Frage gefragt, sondern eher die Fähigkeit, juristische Argumente klar zu formulieren und eine gut überlegte, nachvollziehbare Antwort zu geben. Es geht darum, zu zeigen, dass man in der Lage ist, komplexe Sachverhalte zu durchdringen und zu einer fundierten Einschätzung zu kommen.
Und ganz wichtig: Bleib authentisch. Wenn dir etwas nicht sofort einfällt, ist es vollkommen in Ordnung, einen Schritt zurückzutreten und die Frage noch einmal zu durchdenken, gerne auch laut zu denken. In solchen Momenten zeigst du nicht nur juristische Kompetenz, sondern auch Souveränität und die Fähigkeit, mit Unsicherheiten konstruktiv umzugehen.
Es gibt nicht den einen richtigen Weg – aber es gibt viele gute.
Gudrun Schäpers
Gudrun Schäpers ist seit dem 05.07.2021 die erste Präsidentin des Oberlandesgerichts Hamm. Im Jahr 1996 begann sie ihre richterliche Laufbahn und übernahm schon früh Aufgaben in der Justizverwaltung. So leitete sie u.a. das Haushaltsreferat im Ministerium der Justiz, war Präsidentin des Landesjustizprüfungsamtes und war Leiterin der Abteilung für Haushalt, Liegenschaften und Organisation der Gerichte und Staatsanwaltschaften im Ministerium der Justiz.