Mut zum Neuanfang: Warum Umwege sich lohnen

Vom Gerichtssaal bis zur Großkanzlei und schließlich in die Selbstständigkeit: Die Karriere von Anne Graue zeigt, dass wahres berufliches Glück oft dort entsteht, wo der Mut größer ist als die Angst vor dem Unbekannten.

Du warst bereits als Strafrichterin, Anwältin in einer Großkanzlei und Syndikusanwältin tätig – Traumjobs vieler angehender Juristinnen. Wie hat Dich diese Zeit geprägt und warum hast Du Dich jeweils entschieden, einen anderen Weg einzuschlagen?

Während meines Studiums habe ich mehrere Praktika in Großkanzleien gemacht – diese Welt hat mich damals absolut fasziniert. Für mich war klar: Das ist das große Tor, durch das man gehen muss, wenn man es “schaffen” will. Ich war überzeugt, dass man z. B. als In-House Counsel nur eine Chance hat, wenn ein großer Name im Lebenslauf steht.

Während meines Referendariats bekam ich dann ein Angebot für eine Associate-Position bei Clifford Chance – ich war natürlich super happy. Aber der Arbeitsalltag dort hat sich einfach überhaupt nicht richtig angefühlt. Das habe ich wahnsinnig schnell gemerkt. Ich erinnere mich noch gut, wie ich damals meinen Eltern erzählte, dass ich kündigen und mir etwas Neues suchen will – noch in der Probezeit. Sie waren völlig verzweifelt. Ihre Sorge: „Du findest doch nie wieder einen Job!“

Doch tatsächlich kam der Staat schneller als gedacht: Nur zwei Wochen nach meiner Bewerbung wurde mir eine Stelle als Strafrichterin angeboten – zur großen Erleichterung meiner Eltern. Für mich war aber ziemlich schnell klar: Auch das ist nicht meine Welt. Die vielen einsamen Stunden im kleinen Büro, der endlose Papierkram, die unzähligen Unterschriften – das war einfach nicht das, was ich mir für mich vorgestellt hatte.

Und dann kam wie aus dem Nichts eine Interview-Einladung von AUDI – noch aus meiner alten Bewerbungsrunde aus Kanzlei-Zeiten. Ich stand an einem Wendepunkt – und bog nochmal ab.

Die Zeit bei AUDI war großartig: Ich durfte international arbeiten, war für Produkthaftungs- und Produktsicherheitsrecht im Bereich E-Mobilität sowie für Litigation im APAC-Raum und Teilen Europas verantwortlich. So nah an einem innovativen Produkt zu sein, hat mich total begeistert. Aber: Ingolstadt – tiefstes Bayern – war für ein Bremer Nordlicht wie mich einfach zu weit weg von der Familie. Mein Herz sehnte sich nach Veränderung.

Also zog es mich nach Berlin, wo ich bei TIER Mobility SE einstieg. Die E-Scooter waren gerade ganz neu auf dem Markt und veränderten das Stadtbild. Das Unternehmen hatte zu dem Zeitpunkt rund 80 Mitarbeiter – und wuchs innerhalb von knapp zwei Jahren auf über 1.500. Wir expandierten in 15 Länder. Es war eine absolut wilde Zeit, in der ich unglaublich viel gelernt habe und am Ende ein eigenes Team führen durfte.

In der Corona-Zeit entschied ich mich erneut für einen Wechsel – zurück in den „sicheren Hafen“ zur Volkswagen AG. Während meiner Elternzeit mit meinem Sohn habe ich dann viel über die Zukunft nachgedacht. Wir entschieden uns, zurück in die Heimat – nach Bremen – zu ziehen, um näher bei der Familie zu sein.

Nach meiner Elternzeit haben wir keine Betreuungsmöglichkeit für unser Kind gefunden. Ich musste eine Lösung finden, die es mir ermöglichte, tagsüber für meinen Sohn da zu sein und abends und nachts zu arbeiten. Diese Flexibilität, die mit der Selbstständigkeit einhergeht, empfinde ich als enorm bereichernd. Gleichzeitig kann ich so Unternehmen mit meiner Expertise zielgerichtet unterstützen – eine Win-Win-Situation.

Du arbeitest heute als Interim bzw. Fractional Counsel und Legal Operations Advisor. Wie sieht Dein Arbeitsalltag aus?

Zu Beginn eine kurze Erklärung, da der Begriff Fractional Counsel im DACH Raum noch recht neu ist: Fractional Counsel bringen in der Regel langjährige In-House-Erfahrung mit. Sie denken nicht nur juristisch, sondern auch strategisch und unternehmerisch. Anders als Kanzleien, die oft projektbasiert und auf Stundenbasis arbeiten, sind Fractional Counsel näher am Tagesgeschäft, sprechen die “Sprache des Unternehmens” und arbeiten mit einem vorab definierten Budget.

Mein Arbeitsalltag ist unglaublich abwechslungsreich – meist betreue ich parallel zwischen drei und sechs Mandanten. Dabei berate ich sowohl Start-ups als auch Großkonzerne – quer durch alle Branchen. Genau das macht meine Arbeit so spannend: Die Themen sind genauso vielfältig wie die Unternehmen selbst.

Am meisten Spaß machen mir Legal Operations-Projekte – also wenn Mandanten ihre Arbeitsweise effizienter gestalten wollen und bereit sind, bestehende Prozesse kritisch zu hinterfragen. That’s where the magic happens!

 

Welche besonderen Skills braucht man, um als Fractional Counsel erfolgreich zu sein?

Wichtig ist auch eine Hands-on-Mentalität: Es geht nicht darum, akademisch perfekte Lösungen zu bauen, sondern pragmatisch zu beraten und Dinge auf den Punkt zu bringen. Die Arbeit als Fractional Counsel bedeutet: keine lange Einarbeitungszeit, kein “erstmal ankommen” – sondern direkt im kalten Wasser schwimmen und Mehrwert liefern.

Auch nicht zu unterschätzen: Selbstorganisation. Ich arbeite oft an mehreren Projekten gleichzeitig, in unterschiedlichen Zeitzonen, mit verschiedenen Ansprechpartnern. Ohne Struktur geht da gar nichts.

Was hättest Du vor Deiner Selbstständigkeit gern früher gewusst?

Ich hätte gerne früher realisiert, wie viel Energie es kostet, die Verantwortung alleine zu tragen. Als Solo-Entrepreneur verbringt man viele schlaflose Nächte damit, sich Gedanken darüber zu machen, wann das nächste Projekt endet und welches Projekt danach anschließen kann. Die Fluktuation ist Teil des Geschäftsmodells, das wusste ich – aber vor meiner Selbstständigkeit hatte ich unterschätzt, wie sehr einen diese Unsicherheit auch subjektiv beschäftigen kann. Objektiv weiß man, dass neue Projekte kommen werden, aber trotzdem kommen immer wieder Zweifel und Sorgen, die sich aufdrängen. Es ist diese ständige Balance zwischen Vertrauen in die Zukunft und die eigenen Fähigkeiten einerseits und die Sorge vor dem Ungewissen andererseits, die manchmal an die Substanz gehen kann.

Hattest Du in Deiner Laufbahn Erfahrungen mit dem Impostor-Syndrom, und wenn ja, wie bist Du damit umgegangen?

Ja, ich habe definitiv Erfahrungen mit dem Impostor-Syndrom gemacht – vor allem in Momenten, in denen sogar meine Familie meine beruflichen Entscheidungen hinterfragt hat. Das hat dieses Gefühl der Unsicherheit noch verstärkt. Zum Beispiel, als ich nach so kurzer Zeit einen Job gekündigt habe – das fühlte sich für mich wie ein ultimativer Fehlschlag an. Das erste „Scheitern“.

Aber gleichzeitig war mir in diesen Momenten so klar, dass es die richtige Entscheidung für mich war. Ich wusste, dass es kein Fehlschlag sein konnte, wenn ich für mich selbst die beste Wahl treffe. Dieses Urvertrauen in meinen eigenen Weg und meine Fähigkeiten hat mir unglaublich geholfen. Es war die Basis, um weiterzumachen und nicht in Selbstzweifeln zu versinken.

Ich denke, das Impostor-Syndrom wird man nie ganz überwinden – es ist etwas, das immer wieder auftaucht. Aber es hilft mir, das Thema immer wieder bewusst vor Augen zu führen und mich selbst herauszufordern. Und letztlich hat es mich dazu gebracht, immer mehr an meine eigenen Entscheidungen zu glauben und meinen Weg weiterzugehen.

Was bedeutet für Dich “Legal Innovation”?

„Legal Innovation“ bedeutet für mich, neue, effiziente Wege zu finden, um rechtliche Herausforderungen zu lösen und die Arbeit von Juristen insgesamt zu verbessern. Es geht dabei nicht nur um die Einführung von Legal Tech-Tools, sondern um eine Veränderung in der Denkweise: Weg von traditionellen Prozessen hin zu flexiblen und smarten Lösungen, die die Arbeit von Juristen nachhaltig verändern.

Wie definierst Du für Dich Erfolg?

Erfolg bedeutet für mich vor allem innere Ausgeglichenheit. Das ist etwas, das auf vielen Wegen erreicht werden kann. Für mich persönlich ziehe ich diese Ausgeglichenheit aus dem Kraftakt, der es mir ermöglicht, tagsüber mit meinem Sohn zu spielen und abends trotzdem meine Karriere voranzutreiben. Der Balanceakt zwischen beiden Welten – Familie und Beruf –  gibt mir die Energie, die ich brauche. Und genau das ist für mich der schönste Erfolg der Welt: Jeden Tag an beiden Fronten zu wachsen, ohne dass eine Seite dabei auf der Strecke bleibt.

Welchen ultimativen Karrieretipp hast Du für angehende Juristinnen?

Traut euch auch ungewöhnliche Wege zu gehen! Wenn sich etwas nicht gut anfühlt, dann ist es in den meisten Fällen auch wirklich nicht gut für euch. Ich hoffe, dass meine Geschichte euch ein wenig Inspiration mitgibt, dass es nie zu spät (oder zu früh) ist, einen anderen Kurs einzuschlagen und dass die pure happiness oft abseits der ausgetretenen Pfade zu finden ist. Lasst euch nicht von eigenen oder fremden Ängsten oder Zweifeln bremsen – die besten Chancen entstehen, wenn man den Mut hat, den eigenen Weg zu gehen.

Dieses Urvertrauen in meinen eigenen Weg und meine Fähigkeiten hat mir unglaublich geholfen. Es war die Basis, um weiterzumachen und nicht in Selbstzweifeln zu versinken.

Anne Graue

Anne Graue berät als Fractional Counsel und Legal Operations Advisor Unternehmen jeder Größe. Mit 9 Jahren Inhouse-Erfahrung – darunter Stationen bei Clifford Chance, AUDI, Volkswagen und als Associate General Counsel bei TIER Mobility – verbindet sie juristische Expertise mit unternehmerischem Denken. Ihr Ziel: Unternehmen durch effiziente Prozesse und praxisnahe Rechtsberatung nachhaltig stärken.